Erwin Chargaff (11.08.1905 - 20.6.2002)

Biochemiker, Schriftsteller... & Philosoph

»Zwei verhängnisvolle wissenschaftliche Entdeckungen haben mein Leben gekennzeichnet: erstens die Spaltung des Atoms, zweitens die Aufklärung der Chemie der Vererbung. In beiden Fällen ging es um Mißhandlung des Kerns: des Atomkerns, des Zellkerns. In beiden Fällen habe ich das Gefühl, daß die Wissenschaft eine Grenze überschritten hat, die sie hätte scheuen sollen.«

An mindestens einer dieser verhängnisvollen Entdeckungen war Erwin Chargaff maßgeblich, wenn auch nicht mutwillig, beteiligt. Mit der Chargaff'schen Regel hat er sich einen bleibenden Platz in den Annalen der Wissenschaft gesichert. Die Chargaff-Regel besagt, daß in der Desoxyribonukleinsäure (DNA) der Anteil der Base Adenin gleich dem Anteil des Thymins und der Anteil der Base Guanin gleich dem Anteil des Cytosins ist - nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Mit dieser Regel lieferte Erwin Chargaff eine entscheidende Voraussetzung für die Strukturaufklärung der DNA durch James Watson (*1928) und Francis Crick (1916-2004) im Jahre 1953.

Erwin Chargaff wurde 1905 in Österreich-Ungarn in Czernowitz geboren (heute liegt der Ort in der Ukraine). Der Sohn jüdischer Eltern studierte in Wien Chemie. Zwischen 1920 und 1928 besuchte er aber auch die Vorlesungen des Satirikers Karl Kraus, den er später als seinen »einzigen Lehrer« bezeichnete.

1928 ging Erwin Chargaff auf ein Stipendium an die Yale-Universität (USA), 1930 kam er als Assistent nach Berlin. Als 1933 Hitler an die Macht kam, hielt er ihn für einen vorübergehenden Spuk, nahm jedoch eine Stelle am Institut Pasteur in Paris an. 1935 wechselte er nach New York an die Columbia Universität, wo er 1938 Assistenz-Professor und 1952 Professor für Biochemie wurde.

Ab 1944 untersuchte er die chemische Zusammensetzung der DNA und stellte 1950 die oben erwähnte Regel auf. Häufig wird die Chargaff'sche Regel in der Art falsch wiedergegeben, daß behauptet wird, sie besage die Bindung zwischen den Basen Adenin und Thymin bzw. Guanin und Cytosin. Tatsächlich hatte Erwin Chargaff 1950 davon keine Kenntnis, vielmehr war dies eines der Rätsel, die durch James Watson und Francis Crick 1953 gelöst wurden.

Erwin Chargaff forschte außerdem über Blutgerinnung, Lipoproteine und Tuberkelbazillen. Nach seiner Emeritierung 1974 startete er eine zweite Karriere - als Schriftsteller. Bereits 1978 veröffentlichte er seine Autobiographie »Das Feuer des Heraklid«. In zahlreichen Essays äußerte er sich gesellschafts- und zeitkritisch. In »Die Aussicht vom 13. Stock« (1998) und vielen weiteren Stücken warnte er eindringlich vor den Gefahren der Gentechnologie. Titel wie »Erforschung der Natur und Denaturierung des Menschen« (1988) oder »Armes Amerika - Arme Welt« (1994) verdeutlichen die Vielschichtigkeit seines Denkens. Er begriff sich selbst nie als Philosoph, und doch erreichen seine Werke eine unbestreitbare philosophische Tiefe. Der deutschen Sprache blieb er dabei immer treu.

Erwin Chargaff erhielt sowohl für sein wissenschaftliches als auch literarisches Schaffen zahlreiche internationale Auszeichnungen und Ehrendoktorate. Als seine Frau 1995 starb, stellte er das Schreiben ein, um seinen Tod zu erwarten. Er mußte sich jedoch noch bis zum Jahre 2002 gedulden.
Am 11. August wäre Erwin Chargaff 100 Jahre alt geworden.


Silke Sorge